Estland – zwischen Moderne und Geschichte
Nachdem unsere dreimonatige Skandinavientour zu Ende war, erreichten wir mit der FĂ€hre Tallinn, la capital de Estonia đ Am ersten Tag machten wir eine kleine Sightseeingtour und landeten am Abend in einem ehemaligen KGB-GefĂ€ngnis, welches heute ein Museum ist. Dadurch, dass man die Zellen begehen konnte und es viele ungeschönte Darstellungen aus der Vergangenheit der RĂ€ume gab, ging uns die Thematik richtig unter die Haut. Uns wurde wieder einmal hautnah aufgezeigt, mit welch grausamen Methoden Verbrechen an Menschen begangen wurden.
Auf dem RĂŒckweg zum Bulli entdeckten wir noch ein weiteres Ăberbleibsel aus der Zeit der Sowjetunion: einen Bunker, der inzwischen zu einer Kneipe umfunktioniert worden war. Etwas zaghaft stiegen wir die seltsam dekorierten Stufen hinab und wunderten uns ĂŒber die gespaltene AtmosphĂ€re, die der Raum vermittelte. Wir tranken zwei Bier und plauderten ein wenig mit der Barkeeperin ĂŒber Bunker, StĂ€dte, die von der Landkarte gestrichen wurden und das moderne Estland.
Am nĂ€chsten Tag besuchten wir eine groĂe Markthalle, in der es alles Mögliche an normalem Klimmbimm gab, aber auch so einiges an (fĂŒr uns) verstörenden KuriositĂ€ten. Wir haben uns dagegen entschieden, die Fotos dieser Dinge hier hochzuladen, aber es sei gesagt: Der Este ist nicht immer politisch korrekt.
Auf den Schock hin haben wir am nĂ€chsten Morgen endlich mal die Longboards ausgepackt und haben die Stadt unsicher gemacht. Selbst der einsetzende Regen konnte uns nicht stoppen: „…ich will nur gleiten, nach allen Seiten…“
Tallinn Tag Drei stand wieder mehr im Fokus von Kunst und Kultur. Wir besuchten das alternative KĂŒnstlerviertel Telliskivi Creative City. Leider war das Viertel nicht so interessant, wie wir es uns vorher vorgestellt hatten. Allerdings waren wir in einer Ausstellung, die zur Feier des 30 jĂ€hrigen JubilĂ€ums des „Baltic Way“ installiert worden war. „Baltic Way? Noch nie gehört. Wass’n das?“ Das dachten wir uns auch. In aller KĂŒrze: nachdem die Einwohner der baltischen Staaten erfahren hatten, dass Hitler und Stalin wĂ€hrend des zweiten Weltkrieges in einem Geheimpakt die LĂ€nder unter sich aufgeteilt hatten, organisierten sie einen friedlichen Protest. Sie bildeten eine Menschenkette, die ohne Unterbrechung von Tallinn ĂŒber Riga bis nach Vilnius reichte, um fĂŒr die UnabhĂ€ngigkeit von der Sowjetunion zu demonstrieren. Die Kette war ca. 650 km lang und an den meisten Stellen sogar mehrreihig. SpĂ€ter erlangten Estland, Lettland und Litauen tatsĂ€chlich die UnabhĂ€ngigkeit.
Wir planten eine kleine Rundreise durch den Norden Estlands und folgten der KĂŒste Richtung Westen. Auf der Suche nach einem Stellplatz fuhren wir zufĂ€llig an einem groĂen, sehr gepflegten und weitrĂ€umig umzĂ€unten GebĂ€ude vorbei. Dazu gab es ĂŒberall Schilder: „Zugang verboten! KameraĂŒberwachung!“ Da dieses GebĂ€ude nun so gar nicht in die Gegend passte (hier sehen die meisten HĂ€user nĂ€mlich leider etwas heruntergekommen aus), versuchten wir mit Hilfe des Internets herauszufinden, um was es sich dort handelte. Schnell wurden wir fĂŒndig: es ist ein Sarkophag mit zwei russischen Kernreaktoren drin. Das Ărtchen, an dessen Rand wir uns befanden, hieĂ Paldiski und hat eine besondere Geschichte. Um es wieder möglichst kurz zu halten: In Paldiski hatte die Sowjetunion einen Hafen fĂŒr atomgetriebene U-Boote. Zum Ăben fĂŒr die Schiffsbesatzungen standen hier auch zwei Atomreaktoren an Land. Die Stadt wurde in dieser Zeit von allen Landkarten gestrichen. Nur die höchsten Offiziere wussten von ihrer Existenz. Die Einwohner durften sie nicht verlassen (ausser mit Sondergenehmigungen) und es durfte auch niemand rein (ausser die Soldaten). Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland mit den Esten ausgehandelt, dass Estland sich um die Reaktoren kĂŒmmern muss. So stehen sie noch heute dort und strahlen vor sich hin…
Ab und an kamen wir an so genannten „lost places“ vorbei. Am Anfang haben wir einige davon besucht, aber es gibt hier so viele davon, dass wir spĂ€ter schon gar nicht mehr angehalten haben (dasselbe gilt fĂŒr die kommenden LĂ€nder Russland, Lettland und Litauen).
Leider gilt in Estland allerdings die Alkohlgrenze von 0,0 â° im StraĂenverkehr, sodass man hier nichtmals ein Bier trinken darf. Dabei ist „ein Bier“ hier auch schonmal eine 2 Liter PET Flasche đ
Als wir in Paldiski waren erreichte uns die Nachricht, dass der reparierte Ladebooster von Votronic bereits in Tallinn angekommen war. Deshalb kĂŒrzten wir unsere Estland-Runde ab und fuhren direkt wieder Richtung Hauptstadt. Unterwegs wollten wir noch ein altes GefĂ€ngnis, welches inzwischen halb im See versunken ist, besichtigen. Auf halber Strecke dorthin stellten wir fest, dass man dafĂŒr wohl besser mit einem Syncro (= Allrad-Bulli) unterwegs sein sollte, denn auf dieser StraĂe kamen wir nicht sicher weiter. Die PfĂŒtzen, die je weiter wir fuhren immer gröĂer und auch tiefer wurden, brachten uns schlieĂlich zum Abbrechen unseres Plans. Als die RĂ€der beim Durchfahren eben dieser schon fast ganz im Wasser verschwanden, hielten wir es fĂŒr besser umzudrehen. Denn hier im Nirgendwo mit abgesoffenem Motor im Schlamm zu versinken gehörte nicht zu unserem Vorhaben đ
Wieder in Tallinn angekommen holten wir unser Paket bei UPS ab und feierten Vickys Geburtstag. Zuerst ging es in das KatzencafĂ© Nurri, wo es Leckereien und Katzen zum Kuscheln gab und abends gingen wir auf das Lichterfest im Park des Schlosses Katharinental. Es war fĂŒr Deedee nicht leicht gewesen dieses Fest extra fĂŒr Vickys Geburtstag zu organisieren, aber man tut ja was man kann đ đ
Ruck zuck tauschten wir kurz darauf das provisorische Trennrelais wieder gegen den reparierten Ladebooster und hofften darauf, dass die StromengpÀsse von nun an der Vergangeheit angehörten. Wir sind gespannt.
Nachdem uns der Kundenservice von Campingaz vor kurzer Zeit so im Regen hat stehen lassen, möchten wir nicht nur meckern, sondern auch mal loben und deshalb ein Wort zum Kundenservice der Firma Votronic verlieren, welche der Hersteller unseres Ladeboosters ist: Ein Tag nach unserer Mail via Kontaktformular rief uns die Firma schon an, um nach einer Lösung zu suchen. Dann haben sie das eingeschickte GerĂ€t noch am selben Tag kostenlos repariert und uns ebenfalls kostenlos nach Estland geschickt. Und das alles, ohne zu fragen, wann und wo wir das GerĂ€t gekauft hatten. Das ist Kundenservice vom Allerfeinsten und das möchten wir mal lobend erwĂ€hnen. Vielen Dank fĂŒr die schnelle und unkomplizierte Hilfe!!
Hier noch ein paar Bilder von unseren StellplĂ€tzen in Estland, FundstĂŒcke am Wegesrand und Vickys ersten „Bulli-Offroad-Erfahrungen“ đ
Bei unserem zwar kurzen, aber dennoch intensiven Aufenthalt in Estland lernten wir zwei sehr unterschiedliche Seiten des Landes kennen: zum einen die groĂe, moderne, fortschrittliche Stadt Tallinn, die zwar sehr von ihrer Geschichte geprĂ€gt ist, aber sich, unserem Empfinden nach, von der Zeit in der Sowjetunion „erholt hat“. Auf der anderen Seite die KleinstĂ€dte und Vororte, die wir auf unserer Durchreise passierten. Diese versprĂŒhten noch sehr stark den Geschmack der Geschichte und lieĂen uns mit ihren verfallenen HĂ€usern, umzĂ€unten militĂ€rischen Gebieten und insbesondere ihrer Architektur doch sehr ihre bedrĂŒckende Vergangenheit fĂŒhlen.
Dann ging es fĂŒr uns Richtung russischer Grenze. Auf dem Weg dorthin kamen wir noch an der Stadt SillamĂ€e vorbei, ein Tipp von der Barkeeperin aus der Bunkerkneipe in Tallinn. Auch diese Stadt war einst eine geheime Stadt. Dort standen die ersten Urananreicherungsanlagen der Sowjetunion. Abgesehen davon, dass fast die ganze Stadt mit geheimen Bunkern unterkellert ist, hat sie als kleines ErinnerungsstĂŒck an die gute alte Zeit noch einen See, der mit zig Tonnen radioaktivem MĂŒll verseucht ist.
Am Abend vor unserem GrenzĂŒbertritt nach Russland erreichten wir die Stadt Narwa. Bei einem Spaziergang konnten wir schon einen Blick „rĂŒber“ auf die andere Seite werfen und die Festung Ivangorod bestaunen, die sich auf der anderen Seite des Flusses Narva befindet, der die beiden LĂ€nder voneinander trennt.
Von dem GrenzĂŒbertritt und unserem Aufenthalt in Russland berichten wir in unserem nĂ€chsten Beitrag.
Do swedanje!